Offener Brief an die Österreichische Bundesregierung und das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten

Sehr geehrte Damen und Herren,

die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (Rojava) besteht seit über einem Jahrzehnt.
Sie ist aus dem syrischen Bürgerkrieg hervorgegangen – nicht als bewaffnetes Projekt der Abspaltung, sondern als zivile, demokratische Antwort auf jahrzehntelange Unterdrückung, strukturelle Ausgrenzung und kulturelle Auslöschung.

Trotz Krieg, Blockaden und wiederholten Angriffen hat diese Selbstverwaltung Folgendes aufgebaut und gesichert:

 

  • ein demokratisches Modell auf kommunaler und regionaler Ebene
  • ein funktionierendes Bildungssystem in mehreren Sprachen, inklusive Kurdisch
  • rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern mit verbindlicher Frauenquote
  • Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen: Kurd*innen, Araber*innen, Assyrer*innen, Armenier*innen und weitere
  • effektive Bekämpfung des sogenannten IS, mit über 20.000 gefallenen Kämpfer*innen und mehr als 30.000 Verletzten

 

Dieses Projekt wurde unter schwierigsten Bedingungen realisiert – ohne internationale Anerkennung, ohne strukturelle Hilfe, oft unter gezielten militärischen Angriffen.

Besonders hervorzuheben ist die Rolle der Frauen in dieser Selbstverwaltung:
Sie leiten Räte, kommandieren Verteidigungseinheiten, gestalten Recht und Gesellschaft mit.
Ihre aktive Teilhabe ist gelebte Gleichberechtigung – nicht nur Symbolpolitik.

Doch die internationale Politik, darunter auch Vertreter der USA, sprechen aktuell von der „Unmöglichkeit föderaler Lösungen“ und rücken erneut eine zentralistische Einheitsstaat-Idee in den Mittelpunkt.
Genau dieses Modell hat Syrien in die Katastrophe geführt – mit Repression gegen Minderheiten, Sprachverboten, Verleugnung der kulturellen Existenz kurdischer Dörfer und systematischer Ausgrenzung.

 

Die Rückkehr zu einem zentralistischen System ohne rechtlich garantierte Selbstverwaltung würde zwangsläufig zu neuer Instabilität führen.
Ein solches Modell ist mit den Forderungen und Erfahrungen der Menschen in Rojava nicht vereinbar.
Die Realität vor Ort ist eindeutig: Es besteht kein Vertrauen in eine Regierung in Damaskus, die bisher keine Schritte zur Anerkennung der kulturellen, sprachlichen und politischen Rechte von Minderheiten unternommen hat.

Was in Gebieten geschieht, die nicht mehr unter der Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, bestätigt diese Sorge auf tragische Weise.

 

Beispiel Afrin (seit 2018 unter türkischer Besatzung):

  • Über 300.000 Kurd*innen wurden vertrieben
  • Hunderte Zivilist*innen wurden getötet oder entführt
  • Berichte von systematischer Plünderung, ethnischer Verdrängung und gezielter Zerstörung kultureller Stätten liegen vor
  • Frauen sind besonders betroffen – von sexualisierter Gewalt bis zu Entführungen durch protürkische Milizen

 

Beispiel Serêkaniyê/Ras al-Ain (seit 2019 unter Kontrolle protürkischer Gruppen):

  • Zehntausende mussten fliehen
  • Rückkehr ist kaum möglich wegen systematischer Gewalt, Repression und Enteignung
  • Die wenigen verbliebenen Minderheiten leben unter täglicher Bedrohung
  • Schulen, Verwaltungen und Gesundheitszentren, die einst offen für alle waren, wurden zerstört oder militarisiert

 

Ein weiteres alarmierendes Beispiel für systematische Ausgrenzung zeigt sich bei den sogenannten Wahlen in den vom Regime kontrollierten Gebieten:
Alle Personen, die nach 2011 die syrische Staatsbürgerschaft erhalten haben – vor allem Kurd*innen, denen sie zuvor durch politische Entscheidung entzogen wurde – dürfen nicht wählen.


Das Regime unter Assad hatte damals zehntausenden Kurd*innen ihre Staatsbürgerschaft entzogen, allein weil sie Kurd*innen waren.
Die heutige "Regierung" führt diese Politik des Ausschlusses bewusst fort.
Dieses Vorgehen entzieht hunderttausenden Menschen ihre politischen Rechte – gezielt, systematisch und mit klarer diskriminierender Intention.

Die demokratische Selbstverwaltung verlangt nicht mehr als das, was in der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 1) als Grundrecht gilt:
das Recht der Völker, ihre politische Zukunft selbst zu bestimmen.

Was die Menschen in Nord- und Ostsyrien fordern, ist das Minimum:

  • ein föderales System
  • oder eine verfassungsmäßig verankerte Selbstverwaltung
  • mit gleichberechtigter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen
  • als Teil eines geeinten Syriens – aber nicht unter einem alten Machtapparat

 

Aus diesem Grund appellieren wir an die Republik Österreich und ihre außenpolitischen Entscheidungsträger:

  • Setzen Sie sich aktiv auf europäischer Ebene für die Anerkennung der demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien als legitimen politischen Akteur ein
  • Unterstützen Sie ein föderales oder dezentralisiertes Modell für Syrien, das die kulturellen und politischen Rechte aller Völker garantiert
  • Nehmen Sie Kontakt mit Vertreter*innen der Selbstverwaltung auf und ermöglichen Sie ihnen politische Sichtbarkeit auf europäischer Ebene
  • Leisten Sie politische, diplomatische und gesellschaftliche Unterstützung für jene, die in der Region Stabilität, Gleichberechtigung und Demokratie schaffen – nicht für autoritäre Regime

 

Was in Rojava geschieht, ist ein demokratisches Experiment, das Aufmerksamkeit, Schutz und partnerschaftliche Unterstützung verdient.
Seine Zerschlagung durch Desinteresse oder falsche politische Prioritäten würde nicht nur diese Region destabilisieren, sondern ein falsches Signal an alle Kräfte senden, die für Gerechtigkeit und Teilhabe kämpfen.

 

Mit freundlichen Grüßen,

Rote Falken Österreich, Verband Sozialistischer Student_innen Österreich, Aktion kritischer Schüler_innen Österreich, Sozialistische Jugend Österreich & SOS-Balkanroute.

Rote Falken Österreich am 21. Juli 2025